"Die Patienten können sich nicht mehr kontrollieren" | EAT SMARTER
Binge Eating - Fragen an die Expertin
"Die Patienten können sich nicht mehr kontrollieren"
Frau Prof. Anja Hilbert vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen Leipzig beschäftigt sich schon länger mit Binge Eating. Im Interview erklärt sie, was hinter der Binge Eating-Störung steckt, was mit den Patienten während der Ess-Attacken passiert und wo man Hilfe finden kann.
Gelegentliches Frustessen – das kennen viele Menschen. Wie unterscheidet sich die Binge-Eating-Störung davon?
Binge Eating geht mit einem totalen Kontrollverlust einher. Die Menschen essen sehr viel schneller und sehr viel mehr als sonst. Und diese Essanfälle treten regelmäßig auf. Wirklich genießen können Binge Eater nicht: Nach dem Essen fühlen sie sich häufig schuldig. Im Gegensatz zu Patienten mit Bulimia nervosa erbrechen sie sich aber danach nicht.
Was ist die Ursache, wer ist besonders häufig betroffen?
Man geht von einer genetischen Grundlage aus, aber einzelne Gene konnten bislang noch nicht identifiziert werden. Auf jeden Fall hatten die Betroffenen meist schon eine besondere Verbindung zum Essen: Einige waren bereits als Kinder übergewichtig. Viele der Patienten sind außerdem anfällig für psychische Störungen wie Depressionen. Aus solchen Bedingungen kann sich die Störung entwickeln.
Welche Rolle spielt das Essen dabei?
Essanfälle haben eine emotionale Bedeutung: Die Menschen wollen darüber Kummer, Stress oder Frust abbauen. Auslöser können misslungene Diätversuche sein: Schon der Vorsatz, eine Diät zu halten oder Mahlzeiten auszulassen, führt bei vielen Betroffenen zu Essanfällen.
Was empfinden Betroffene bei solch einem Essanfall?
Einige Patienten haben uns erzählt, dass das Essen für sie eine kleine Auszeit ist. Aber diese Flucht aus dem Alltagsstress dauert nur kurz an, dann kommen die Schuldgefühle.
Welche Nahrungsmittel lösen diese kurzfristige Befriedigung aus?
In der Regel sind es fett- und zuckerreiche Lebensmittel, zum Beispiel Schokolade, Chips oder Kartoffelsalat. Bei diesen Essanfällen können mehrere tausend Kalorien auf einmal zusammenkommen.
Wie erkennen Angehörige oder Freunde, ob jemand an einer Binge-Eating-Störung leidet?
Das ist nicht einfach. Die betroffenen Menschen essen in der Regel heimlich. Es ist ihnen peinlich. Manche Binge Eater zeigen es aber offener, etwa wenn sie sich den Teller beim Buffet immer wieder auffüllen. Manchmal erkennt man sie auch daran, dass sie eine übermäßig starke Diäthaltung zeigen.
Wie kann den Betroffenen geholfen werden? Zum Beispiel in der Familie?
Man sollte sie behutsam, aber offen darauf ansprechen. Man könnte sie fragen, ob es ihnen schwerfällt, sich beim Essen zu kontrollieren. Dann sollte man ihnen helfen, einen Experten zu finden. In Einzel-, Gruppen- oder Online-Therapien können die Patienten lernen, ihr Essverhalten wieder zu kontrollieren. Dabei geht es zum Beispiel darum, wieder zu spüren, wann man wirklich Hunger hat oder nur Appetit. Untersuchungen zeigen, dass den Patienten in 60 bis 80 Prozent der Fälle geholfen werden kann.
Prof. Anja Hilbert/ Foto: Stefan Straube/UKL