Warum der Herbst die vielleicht schönste Jahreszeit ist | EAT SMARTER

Warum der Herbst die vielleicht schönste Jahreszeit ist

Von Uwe Pettenberg

Spaziergang gegen Herbstblues

Der Herbst ist die Jahreszeit, in der sich Licht und Schatten ausbalancieren. Jetzt dürfen wir der Vergänglichkeit des Seins vertrauen und loslassen.

Mit der Herbst-Tagundnachtgleiche kommt die dritte Jahreszeit. Traditionellerweise wird sie in unseren Breitengraden als eine Zeit der Veränderung und des Übergangs in den Winter gesehen. Für Christen, die nach dem liturgischen Jahr leben, ist der Herbst sogar der Beginn eines neuen Kreislaufs. Zahlreiche Dichter haben den Herbst besungen. In diesem Gedicht von Rilke ist die Verwandtschaft des deutschen Wortes „fallen“ mit dem englischen Begriff „fall“ für Herbst sichtbar und beschreibt ein wichtiges Thema in dieser Zeit: Das des sich Fallenlassens und des Loslassens.

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln ferne Gärten; 
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde,
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. 
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen 
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

Zeit des Übergangs

Wenn wir im Herbst den Blättern zuschauen, wie sie im Wind wirbeln und auf den Boden sinken, werden wir daran erinnert, dass der Kreislauf der Natur unseren eigenen widerspiegelt. Der Herbst ist die Zeit des Loslassens, des Erlösens von allem, was uns nicht mehr dient. Alle spirituellen Traditionen üben sich in dieser Zeit im Verzichten, Überlassen und Aufgeben – im ganzen positiven Sinn.

Der Herbst ist eine gute Zeit um zurückzutreten, um zur Seite zu treten und das Leben seinem natürlichen Fluss zu überlassen. Der Buddhismus lehrt, dass Großzügigkeit und Freundlichkeit aus einer inneren wertfreien Haltung des Loslassens und Aufgebens erwachsen. Die Fähigkeit, akzeptieren zu können, was ist, und großzügig zu geben, kommen aus der gleichen Quelle. Wenn wir Großherzigkeit und Freigiebigkeit praktizieren, öffnen wir uns gleichzeitig für alle diese Qualitäten in uns selbst. Sie tragen uns in das Wissen um die ultimative Freiheit und sind gleichzeitig der liebevolle Ausdruck derselben. Der Herbst ist die perfekte Jahreszeit, um unsere Zeit und unsere Talente von Herzen an andere zu verschenken.

Die Balance von Dunkelheit und Licht

Wie der Begriff schon sagt, sind zur Tagundnachtgleiche der Tag und die Nacht gleich lang. Hier wird unsere Sehnsucht nach dem Ausgleich von Licht und Schatten gespiegelt. Viel zu viel fürchten wir die Schatten in uns und sehnen uns nach dem Licht. Von dem Psychotherapeuten und Autor Rüdiger Dahlke gibt es das schöne Zitat „Im Schatten liegen die Schätze.“ Und so ist es. Ich bin mittlerweile sehr dankbar dafür, dass meine Schatten immer weniger meine Feinde sind, sondern vielmehr ein Ort des stillen Nährens, wo der stetige, langsame Reifeprozess stattfinden kann, den meine Seele zum Wachsen braucht. Nicht nur das Licht ist heute ein willkommener Teil meines Lebens, sondern auch meine innere Dunkelheit.

Es gibt eine wunderbare Geschichte aus dem Buddhismus über das Akzeptieren aller Situationen, wenn wir in der Dunkelheit ohne Antworten gelassen wurden: „Eines Tages, als der Zenmeister Tokusan noch ein Schüler war, besuchte er seinen Lehrer, Ryutan, kurz vor Sonnenuntergang. Sie saßen auf dem Boden von Ryutans Hütte, tranken Tee und diskutierten Zen bis tief in die Nacht. Schließlich sagte Ryutan: ,Vielleicht ist es an der Zeit, dass Du nach Hause gehst.’ Tokusan verbeugte sich vor seinem Lehrer und schritt zur Tür. ,Es ist vollkommen dunkel draußen,’ sagte er. Ryutan entzündete eine Laterne und sagte: ,Warum nimmst Du nicht diese?’ Just in dem Moment, als Tokusan die Laterne von seines Meisters Hand nehmen wollte, blies dieser die Flamme aus. Und plötzlich wusste Tokusan alles, was er wissen musste.“

Manchmal gibt es keine andere Lösung für unsere Situation als die, in völliger Dunkelheit noch einmal von vorne anzufangen. Den Fernseher auszuschalten kann so erhellend sein wie eine Laterne auszulöschen. Beides ist abrupt und befördert uns fast übergangslos in eine andere Welt: In der Dunkelheit sind wir immer ganz auf uns selbst gestellt.

Das Anerkennen und Akzeptieren der Vergänglichkeit

Der Herbst erinnert uns an die Vergänglichkeit aller Dinge, nicht zuletzt die eigene. Im Frühling haben wir das Knospen der Natur erlebt, im Sommer ihr verschwenderisches Blühen. Nun fallen die Blätter und lassen alles kahl, nackt und bloß zurück. Wir werden an die flüchtige Natur in allen Dingen erinnert. Wenn wir über die Veränderungen, die der Herbst bringt, bewusst wahrnehmen, können wir die Schönheit, die uns umgibt, noch mehr schätzen. Einen Sonnenaufgang, eine Beziehung, die Umarmung eines Kindes wertschätzen wir alles deshalb so sehr, weil wir wissen, dass es irgendwann nicht mehr so sein wird. Der Herbst holt den Tod in unser Bewusstsein und damit die Herausforderung, jeden Tag aus dem Vollen zu schöpfen und zu leben.

Das wünsche ich Ihnen!

Herzlichst,

Ihr Uwe Pettenberg