Raus aus der Essstörung, rein ins Leben!
Magersucht ist in der heutigen Zeit, in der uns täglich Models in XXXS-Größen und strikte Abnehmprogramme begegnen, allgegenwärtig. In unserer Gesellschaft stehen dünne Körper für Disziplin und Kontrolle und nicht für eine ernsthafte Essstörung. Angelehnt an die vergangene "Eating Disorder Awareness Week" möchte ich mit meiner Geschichte mehr Bewusstsein schaffen und aus meiner Sicht zeigen, was hinter der Krankheit steckt.
Inhaltsverzeichnis
- 49 Kilo Gewicht
- 43 Kilo Gewicht
- Mein Gewicht
"Du musst doch einfach nur essen!" Diesen Satz habe ich während der schlimmsten Phase meiner Essstörung oft gehört. Von Freunden, von Bekannten, ja sogar von Ärzten. Ich habe gegessen, ja. Aber pro Tag nur einen Apfel oder mal ein Knäckebrot.
Als ich im Jahr 2010 aus meinem Auslandsaufenthalt zurückkehrte, war ich leicht übergewichtig. Nicht viel, aber genug, um mich selber in meiner Haut nicht mehr wohlzufühlen. Kurzerhand stellte ich meine Ernährung um. Abnehmen und wieder schlank sein, das war mein Plan. Ich führte ein Ernährungstagebuch und trug alle meine Mahlzeiten und Snacks mit Kalorienangaben dort ein. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen. Doch jeden Tag wurden die Mahlzeiten, die ich eintrug winziger, die Kalorien geringer. Morgens: Knäckebrot mit Kräuteraufstrich und Käse, einen Apfel. Als ich herausfand, wie viele Kalorien eine Scheibe Gouda hat, wurde der Gouda gestrichen. Am nächsten Morgen gab es nur Knäckebrot mit Kräuteraufstrich. Zudem meldete ich mich im Fitnessstudio an und besuchte täglich zwei bis drei Kurse.
49 Kilo Gewicht
Kalorien verbrennen. Abnehmen. Endlich dünn sein. Der übermäßige Sport und die stark kalorienreduzierte Diät zeigte schnell seine Wirkung. Innerhalb von sechs Monaten nahm ich knapp 12 Kilo ab und hatte damit mein ursprüngliches Gewicht erreicht. Mein Umfeld reagierte unglaublich positiv und beglückwünschte mich zu meiner Transformation. Ab diesem Zeitpunkt hatte sich jedoch etwas in mir verselbständigt, was ich nicht mehr kontrollieren konnte. Meine Gedanken kreisten rund um die Uhr um Kalorien. Ich wollte mehr abnehmen, mich noch mehr kontrollieren und trotz geringer Nahrungsaufnahme Höchstleistungen erbringen. An einem Abend schrieb ich in mein Tagebuch : "Bitte bitte, warum kann ich nicht 49 Kilo wiegen?".
Wenige Wochen später hatte ich durch extremes Hungern auch dieses Gewicht erreicht. Magersüchtige entwickeln komische Angewohnheiten, um das Bedürfnis nach Essen im Griff zu haben. Ich war sehr stolz auf mich, als ich einen Apfel mit Messer und Gabel aß und dafür über eine Stunde brauchte. Trotzdem hatte ich Hunger. Jede Esssgestörte die sagt, dass sie Essen verabscheut und nicht hungrig ist, erzählt meiner Meinung nach nicht die Wahrheit. Der Körper braucht Nahrung, um zu funktionieren und da ich kaum etwas aß, bin ich stundenlang durch die Lebensmittelstände und Restaurants in Einkaufszentren gelaufen und habe mir vorgestellt, was ich alles essen könnte.
Letzten Endes habe ich mir nur einen Kaffee gekauft und eine halbe Wagenladung Süßstoff darin ertränkt. Meine Tage waren routiniert und geplant. Aufstehen, wiegen. Eiskalt duschen und mich nicht abtrocknen, weil dadurch angeblich mehr Kalorien verbrannt werden, wiegen. Unmengen an Kaffee und Wasser trinken, wieder wiegen. Jede Veränderung auf der Waage musste beobachtet und protokolliert werden.
Die Waage war mein Altar und entschied über mein Befinden und meine Stimmung.
Gewicht runter, guter Tag. Gewicht rauf, schlechter Tag. Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn meiner Essstörung einen Arzt aufsuchte und auf seiner Waage ein Kilogramm mehr wog, als auf meiner zu Hause. Der Kommentar des Arztes während er ein Käsebrötchen (in der Praxis) aß: "Sie sind doch noch gar nicht so magersüchtig!"
43 Kilo Gewicht
Ein Jahr später wog ich auf seiner Waage nur noch knapp 43 Kilogramm. Die Magersucht isoliert. Ich schottete mich ab und wollte mich weder mit Freunden treffen noch besucht werden. Essen ist eine gemeinschaftliche Aktivität. Man trifft sich zum Essen, isst ein Eis, ein Stück Kuchen. Ich war mit meiner Krankheit allein, wenn ich nicht beim Sport war und mich stundenlang auf dem Crosstrainer quälte, war ich in sogenannten Pro-Ana Foren. Diese Seiten sind pro Anorexia, also für die Essstörung und gleichen mehr einer Sekte als einer Austauschmöglichkeit für Esssgestörte. Ich warne ausdrücklich vor Pro-Ana Seiten und empfehle niemandem diese je aufzusuchen!
Als Magersüchtige hat man das Gefühl, dass man Nahrung nicht braucht, um zu funktionieren. Ich ernährte mich ausschließlich von Milch. Das war das einzige Nahrungsmittel, das ich als ok ansah. Täglich trank ich bis zu drei Liter heiße Milch. 1,5% Fett natürlich. Es war ja nur ein Getränk und wahrscheinlich meine Rettung vor bleibenden Langzeitschäden.
Mittlerweile war ich zwei Jahre essgestört. Und die bittere Realität der Krankheit, holte mich schnell ein. Mir war kalt. Immer. Ich zog mehrere Pullover übereinander an, hatte ständig blaue Hände und Gänsehaut. Ich litt unter extremen Kreislaufproblemen. Stand ich morgens zu schnell auf, wurde mir schwarz vor Augen. Meine Haut war fahl und trocken. Meine blonden Haare, die ich sehr an mir mochte, fielen mir büschelweise aus. Ging ich mehr als zehn Treppenstufen fing mein Herz an zu rasen. Meine Beckenknochen standen spitz hervor und ich musste auf jeden Stuhl ein Kissen legen, um vom Sitzen keine blauen Flecken am Po zu bekommen.
Ich war sehr krank. Und das sahen alle – außer mir.
Die Warnungen und Ratschläge meiner Freunde ließ ich nicht an mich heran. Ich wollte nichts hören. Schon garnicht, dass ich wie ein hässliches Skelett aussah. Meine Familie sperrte ich aus meinem Leben aus und lebte hinter verschlossenen Türen. Ich ließ alle machtlos zurück und zog mich in meine Essstörung zurück.
Erst als ich im Wartezimmer meiner Ärztin ohnmächtig wurde und im Krankenwagen wieder aufwachte stellte ich mir die Frage wie lange ich so weiter machen konnte? Wollte ich ohne Magersucht leben oder mit der Magersucht nur überleben? Wenn überhaupt.
Ich wusste einer von beiden musste gehen. Die Magersucht oder ich. Und in diesem Moment entschied ich, dass ich leben wollte!
Mein Gewicht
Ich habe Gewicht. Mein Leben hat Gewicht.
Ich wollte gesund werden. Ich wollte essen. Und mit jedem Bissen den ich aß, auch wenn es mir oft schwer fiel, kam das zurück, was ich verloren hatte. Der Weg aus der Magersucht ist schwer. Er ist steinig, er hat viele Sackgassen und vor allem ist er sehr lang. Aber ich bereue keinen Moment an dem ich wieder von vorne beginnen musste. Hauptsache nicht aufgeben. Rückschläge gehören dazu, Gedanken an die Zeit in der Magersucht gehören dazu. Schritt für Schritt, Mahlzeit für Mahlzeit entschied ich mich für mein neues Leben. Das verlorene Gewicht wieder zuzunehmen bereitete mir keine großen Probleme.
Auf Grund meiner Verhungerungserscheinungen aß ich ständig. Immer. Alles. Jedes Lebensmittel, das ich mir verboten hatte. Innerhalb von knapp fünf Monaten hatte ich ein gesundes Gewicht erreicht. Jedoch zweifelte ich in dieser Zeit an meinem Körper und überlegte oft meine alten, essgestörten Verhaltensmuster wieder aufzunehmen. Schlussendlich habe ich durch eine Therapie, die Leidenschaft zum Kraftsport und die Auseinandersetzung mit gesunder und intuitiver Ernährung im Rahmen meines Studiums meinen persönlichen Weg gefunden. Mittlerweile liegt die Entscheidung "gesund" zu werden knapp vier Jahre zurück. Man sagt, dass die Heilung von Essstörungen meist zwischen vier und fünf Jahren dauert. Manchmal sogar bis zu neun Jahren.
Ich denke noch oft an diese Zeit und hoffe, dass ich nur einer Person mit meinen Erfahrungen helfen kann, ihre eigene Magersucht zu besiegen.
Essstörungen sind allgegenwärtig. Essstörungen sind zerstörend. Essstörungen sind tödlich.
Viele ehemals Betroffene haben ihren Weg aus der Krankheit aufgeschrieben, um anderen Mut zu machen und eine realistische Darstellung der Esstörung zu vermitteln. In "Lebenshungrig: Mein Weg aus der Magersucht" erzählt Laura Pape von ihren Erfahrungen, dem Kampf gegen die Magersucht und dem Schritt in ein neues Leben. Diese Erfahrungen bieten anderen Betroffenen Halt und klären uns über die Magersucht auf.
Ich sage: Wir brauchen diese Bücher, denn eine Essstörung darf nicht zum Tabuthema werden!
Wir müssen darüber sprechen und aus diesem Grund möchte ich mit meiner Geschichte erneut darauf aufmerksam machen, dass Magersucht kein Modetrend ist, sondern eine ernsthafte Krankheit. Betroffene, die Hilfe brauchen, können sich an Einrichtungen wie Waage e.V. in Hamburg wenden. Dort werden sie und ihre Angehörigen dabei unterstützt, die Essstörung gemeinsam zu besiegen.
Ein offenes Ohr und eine Umarmung ist meist alles, was es braucht, um einer Person mit einer Essstörung Halt zu geben und Mut zu machen. Verurteilungen und niederschmetternde Kommentare verletzen und verschlimmern die Situation. Ich kann euch ans Herz legen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und auf die Menschen in eurem Umfeld zu achten.
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