Der Profi-Coach
Das Salz in der Suppe

Warum uns Makel besonders machen und Perfektion out ist

Von Uwe Pettenberg
Aktualisiert am 27. Dez. 2018
Krumme Karotten auf einem Holzuntergrund

Wer danach strebt, alles perfekt zu machen, der wird nicht nur unglücklich, sondern verpasst auch viele Chancen, zu lernen. Nicht nach Perfektion, sondern nach Balance sollten wir streben. Wie das gelingt, erklärt Profi-Coach Uwe Pettenberg.

share Teilen
print
bookmark_border URL kopieren

Wie viel Zeit unseres Lebens verbringen wir damit, perfekt sein zu wollen oder etwas perfekt machen zu wollen? Die guten Zensuren, der Strand-Body, die nächste Präsentation, der perfekte Vater, die perfekte Mutter ... Perfektion anzustreben, und sie dann nicht zu erreichen, macht depressiv und stürzt uns in ungesunde Stimmungsschwankungen und kleinmachende Selbstzweifel. Wenn das Frustlevel zu hoch wird, kann sich auch der größte Perfektionist nicht mehr akzeptieren.

Wenn wir uns nicht mehr selbst akzeptieren können, verlieren wir uns quasi selbst aus den Augen, und dann suchen wir nach Wegen, wie wir uns ein Bild von uns selbst schaffen können, wie wir sein sollten. "Ich schreibe nur Einsen." – "Ich trage immer schon Größe 34." – "Ich habe es zu 100 Prozent geschafft!"

Wer ist die Person hinter all diesen Leistungen und Errungenschaften? Kaum zu glauben, dass sie das alles erreicht hat, ohne unterwegs Fehler gemacht zu haben oder nicht perfekt gewesen zu sein. Doch Fehler und Makel sind das Besondere, was uns von anderen unterscheidet.

Aber was heißt Perfektionismus eigentlich? Lauter Einsen zu schreiben oder in eine kleine Kleidergröße zu passen, ist sicherlich nicht die Definition von perfekt. Wenn dies allerdings Ihre Ziele sind: Wunderbar, daran ist nichts verkehrt. Aber tun Sie es aus gutem Grund, tun Sie es für sich, bleiben Sie dabei authentisch. Es sollte das sein, was Sie wirklich wollen, nicht was irgendjemand anderer für Sie will – oder was Sie glauben, was andere von Ihnen erwarten. Sie bestimmen, wer Sie sind. Lassen Sie sich nicht von Perfektionismus leiten, bestimmen Sie, was für Sie perfekt ist.

Laut Wikipedia wird Perfektionismus wie folgt definiert: "Perfektionismus ist ein psychologisches Konstrukt, das versucht, übertriebenes Streben nach möglichster Perfektion und Fehlervermeidung zu erklären. Eine einheitliche Definition existiert nicht; Forschergruppen haben zahlreiche Facetten des Konstrukts herausgearbeitet."

Nicht Perfektion, sondern Balance sollte das Ziel sein 

Sind schlechte Noten ein Makel? Lässt uns das weniger wert sein? Oder weniger gut unseren Alltag auf die Reihe bekommen? Vielleicht – wenn Sie vorhatten, Geschichtsprofessor zu werden, und Ihre Zensuren in Geschichte waren nicht die besten… wobei es eine Menge Beispiele von bekannten Persönlichkeiten gibt, die in der Schule nicht zu den besten gehörten und sich später als Genies entpuppten. Weil sie abseits der vorgeschriebenen Wege gingen, weil jemand an sie geglaubt hat. Edison zum Beispiel ist so ein Fall.

Wozu also Perfektionismus? Erst Fehler lassen uns lernen und neue Erfahrungen machen. Fehler bringen Bewegung und Klarheit. Fehler lassen uns wachsen. Und Wachstum ist der Prozess unserer physischen, psychischen und emotionalen Entwicklung. Nicht perfekt sein zu wollen, lässt viel Raum für Wachstum. Das ständige Streben nach Perfektionismus hingegen lässt den Trugschluss zu, dass Wachstum nicht mehr nötig ist! Nichts mehr lernen zu müssen, nichts mehr zu tun. Physisch und mental alles erreicht. Klingt ein bisschen langweilig, oder?

Streben Sie nicht nach Perfektion. Streben Sie stattdessen nach Balance. Sicherlich haben Sie das im Vorstellungsgespräch auch schon erlebt: "Nennen Sie uns doch einige Ihrer Stärken." Und Sie haben geantwortet: "Ich kann gut analysieren." – "Ich bin ein guter Teamplayer." – "Ich bin immer freundlich." Nach Ihren Schwächen gefragt, zögern Sie ein wenig und haben vielleicht auch schon mal mit einem verschämten Lächeln gesagt: "Ich neige ein wenig zum Perfektionismus," in der Annahme, das dies Ihrem künftigen Arbeitgeber sicher gefallen wird, da es Genauigkeit und Präzision impliziert. Viele Chefs aber seufzen innerlich bei dieser tatsächlich sehr oft gegebenen Antwort. Wie wäre es, wenn Sie stattdessen sagen: „Manchmal übertreibe ich es mit dem Analysieren und vergesse auf mein Bauchgefühl zu hören." – „Und manchmal bin ich ein so guter Teamplayer, dass ich mich selbst darüber vergesse." – „Ich bin manchmal so freundlich zu allen, dass ich Gefahr laufe, ausgenutzt zu werden, und ich aus lauter Freundlichkeit nichts sage, um niemanden zu verletzen."

Sie werden sehen, das ist völlig in Ordnung. Wenn nicht, ist es möglichweise nicht der richtige Chef. Aber erst einmal ist es völlig in Ordnung, zu seinen vermeintlichen Schwächen zu stehen – das ist nämlich eine Stärke! Es ist wichtig, dass wir an unseren Themen arbeiten, genauso wichtig ist es jedoch zu akzeptieren, dass wir alle Menschen sind und unsere Stärken schwanken dürfen.

Wenn wir Ausgleich anstreben, finden wir Frieden in uns. Wenn wir verstehen, dass wir natürlich immer besser in irgendetwas sein könnten, dass aber der Zustand, der Platz, in/ an dem wir uns gerade befinden, der genau richtige ist, dann erlauben wir uns, ganz wir selbst zu sein. Uns zu mehr zwingen, als wir sind, kann im Desaster für unsere Arbeit, unsere Gesundheit und unsere Persönlichkeit enden.

Überzogene Vorstellungen von Perfektion, ob es nun unseren Körper, unsere Arbeit, unsere Beziehungen betrifft ,sind Konstrukte (siehe oben), die uns Standards und Erwartungen vorschreiben. Im Vergleich stecken wir andere Menschen gerne in Schubladen, denn unser Gehirn sortiert gerne. Doch wenn jeder eine bestimmtes Aussehen oder Verhalten an den Tag legen müsste, würden wir alle gleich aussehen und handeln! Dabei haben wir alle ganz unterschiedliche Formen, Farben und Größen. Wir alle haben Makel und machen Fehler, wir haben jeder unseren Glauben, unsere Moral, unsere Ansprüche und Ängste. Unsere Erfahrungen sind nie genau dieselben, die jemand anders macht, nichts davon kann einfach so erzeugt werden, dafür sind wir Menschen, keine Roboter.

Daher sind Standards, die uns solche Konstrukte vorschreiben wollen, völlig unerheblich. Jeder ist anders und das ist völlig in Ordnung. Genau so soll es sein. Stehen Sie zu Ihren kleinen Macken und vermeintlichen Fehlern. Sie machen Sie zu der einzigartigen Persönlichkeit, die Sie sind. Und vielleicht entdecken Sie ja gerade, dass perfekt etwas ganz anderes ist: Der atemberaubende Sonnenaufgang heute Morgen, der innige Moment mit Ihrem Partner gerade vorhin, wenn Ihr Kind vertrauensvoll seine Hand in Ihre legt und sie bedingungslose Liebe in seinen Augen sehen, auch wenn Sie derzeit (nach Ihren Standards) drei Kilo zu viel wiegen.

In diesem Sinne, herzlichst,

Ihr Uwe Pettenberg


Schreiben Sie einen Kommentar